Sibylle Berg

Texte

Alle Texte

21. Januar 2023Alles geht weiter, nur ohne mich

Liebe Gemeinde.

Während viele der LeserInnen hier bewusst in drei Pullovern und sechs Socken gewrapt in ihren Wohnungen sitzen, die sie entweder gar nicht heizen wegen der zu erwartenden hohen Rechnungen oder nur auf 18 Grad, haben sie doch das gute Gefühl, es irgendwie auch für das Klima zu tun. Und für die Reichen. Also die zehn Prozent der Weltbevölkerung, die für mehr als die Hälfte der Kohlenstoffemissionen seit 1990 verantwortlich sind. Wir sind/werden gerne arm, damit der Irrsinn des steigenden BIPs, das nichts über unsere Lebensbedingungen aussagt, weitergehen kann. Und Unternehmen ihre Aktionäre mit geplanter Obsoleszenz erfreuen, Berge von Schrott erzeugen, und Amazon Waren ökologisch sinnvoll um die halbe Welt fliegt, um Retouren irgendwo zu verbrennen.

Egal, die Zahl der Obdachlosen in Deutschland steigt ständig, die Inflation und warum nicht auch mal solidarisch die Miete nicht mehr zahlen können. Zu einfach ist es, dem System die Alleinschuld zu geben, wenn man die Möglichkeit hätte, den Wahn des Wachstums für wenige mit Gesetzen zu beenden. Schwamm drüber. Während wir Massen also verwirrt von all den absurden politischen Entscheidungen, die dafür sorgen, dass Reiche immer reicher werden und die Massen überwacht und zufrieden der Verlochung von Milliarden ihrer Gelder für amerikanische Kampfflugzeuge zusehen, gibt es auch viel Gutes. Wir leben noch. Vielleicht haben wir eine bezahlbare Wohnung, alle Gliedmaßen, vielleicht sind wir selbstständig und in der Pandemie nicht bankrottgegangen, und nächstes Jahr haben wir einen Urlaub geplant. Außerdem bleiben Ruhe und Ordnung in Deutschland gewährleistet – die Protestbewegung Last Generation ist als Terrorverein abgestempelt, der Kanzler bleibt im Amt.

Ermittlungen gegen #Scholz und Tschentscher in der #CumEx #Warburg Affäre werden (gegen den Willen der ermittelnden Staatsanwältin?) von oben gestoppt. https://t.co/G0Wc8B7GUI

— Fabio De Masi 🦩 (@FabioDeMasi) December 18, 2022

Nach gefühlt 89 Jahren SPIEGEL-Texte schreiben, muss ich mich nun anderen Aufgaben zuwenden wie zum Beispiel – die Welt mit Literatur retten, was ein sehr aussichtsreiches Unterfangen ist.

Oder noch ein paar Theaterstücke schreiben, in der Hoffnung, dass es im neuen Jahr noch Theater gibt.

Ich kann Ihnen jetzt, wo wir hier so gemütlich zusammensitzen– noch jemand eine Wärmflasche?– gestehen, dass ich Ihre mit großer Anteilnahme verfassten Kommentare unter meinen Texten nie gelesen habe. Nicht, weil mir Ihre Meinung nicht wertvoll erschiene, ich hatte einfach keine Zeit dazu, Sie wissen ja, Zeit ist Geld und leider ist es mir nicht gelungen, mich in die Reihen der zehn Prozent zu erben (falls jemand hier dazugehört – ich stehe einer Adoption Ihrerseits sehr offen gegenüber). Wenn Sie meine Texte vermissen, egal ob aus Liebe oder Hass – holen Sie sich meine Bücher. Schicken Sie mir Weihnachts- und Chanukkageschenke, und vergessen Sie mich nicht. Man liest sich immer mehrmals im Leben – vielleicht übernehme ich schon bald die Börsenberichte in der »New York Times«. Bis dahin – Danke für Ihrer aller Treue.

Haben Sie ein schönes Leben.