Sibylle Berg

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27. November 2022Erfindung einer neuen Empfindsamkeit

Das wird mir doch nie passieren! Dass ich jüngere Menschen nicht verstehe.

Weil mich äußerlich nichts von ihnen unterscheidet.

Ich höre ihre Musik, trage die gleichen Sneaker und Hoodies, und okay, ich habe eine Eigentumswohnung mit dem Geld meiner Eltern angezahlt und der kleine Randolf ist jetzt drei. Aber sonst falle ich in einer Ansammlung Siebzehn-, Achtzehn- oder Anfang Zwanzigjähriger nicht auf. Dachten sich viele, die mindestens eine Generation von den Anfang Zwanzigjährigen entfernt sind. Und das war auch gut so, denn nichts Spießigeres gibt es, als in Generationen oder Zahlen zu denken oder zu agieren. Aber. Auf einmal begann es. Langsam. Wurden sie den Älteren unverständlich, denn – was ist der Kick dabei. Sich Bilder von anderen jungen Menschen mit Hasenohren und Filtern anzusehen, die irgendeinen bescheuerten Nagellack auf ihre Fingerkuppen strichen, oder zu Musik, die früher als Schlager gedisst worden wäre, zu tanzen, fragten sich die Erwachsenen. SoziologInnen, Verhaltensforschende und KulturhistorikerInnen versuchten, das Phänomen Selbstdarstellung mit dem Verschwinden des Individuellen, der verzweifelten Suche der Jugend nach einer Bedeutung in Zeiten, in denen Menschen mit Codeketten batteln, zu erklären. Und so weiter. Aber der Graben zwischen Eltern und Kindern hatte sich aufgetan. Sozusagen. Und er wurde breiter. Die Gegenbewegung zu den glatten Filterboys und Babes hatte grüne Haare und hörte Billie Eilish, und schnell taten Ü40-Musikkritiker, als verständen sie irgendwas vom Elend des Jungseins, sie schrieben über diese Musik, als wäre sie ihre und waren dabei nur kurz verunsichert von den Untersuchungen, die von der wachsenden Bedeutungslosigkeit der klassischen Medien für jüngere Menschen berichteten. Die lasen keine ordentlichen Zeitungen mehr, sahen kein Fernsehen. Die kleinen Biester ziehen es vor, sich, statt in den Dutzenden Qualitätsmedien hinter Bezahlschranken, ihre Informationen von Gleichaltrigen auf Plattformen zu holen. Die Medien reagierten angemessen mit Entlassungen, dem Zusammenstreichen der Kulturteile und noch mehr Bezahlschranken. Well done. Gerade als die Erwachsenengenerationen sich wieder ein wenig beruhigt hatten, ging es weiter. Wobei – hier ist ein kleiner Exkurs über das Wort »erwachsen« und seine Bedeutung angezeigt. »Erwachsen« heißt meistens, sich mit dem System arrangiert zu haben. Das war es auch schon. Also. Plötzlich erfanden »Teile« der jüngeren Menschen die neue Empfindsamkeit. (Obacht – nie verallgemeinern! In allen Altersgruppen finden wir Millionen von Individuen mit bescheuerten Ideen, die Welt durch ihre Draufsicht zu erfinden.) Teile erfanden also die Dringlichkeit, alle Geschlechter in der Sprache abgebildet zu sehen. Fair genug. Doch noch während der Hundertste erregte Journalist einen launigen Genderbeitrag schrieb und damit etwas meinte, fanden viele Jugendliche plötzlich Sexismus und Rassismus nicht mehr zeitgemäß. Ageism ging klar, Klassengesellschaft auch, aber man kann sich ja nicht um alles kümmern. Als das nichts half, gingen sie an die Heiligtümer der Erwachsenen: das Recht darauf, im Stau zu stehen. Teile der jüngeren Menschen fanden es plötzlich auch unangemessen, den Planeten dem Profit zu opfern, in SUV rumzudallern, mit Privatjets zum Einkaufen zu fliegen, Plastik in die Meere zu kippen. Und einige hinterfragten, wie undankbar, sogar den Kapitalismus, der uns allen, na ja, oder einigen zu so einem feinen Reichtum verholfen hatte. Sie demonstrierten, ließen sich beschimpfen, mit Häme überschütten, und als das nichts half, gingen sie an die Heiligtümer der Erwachsenen: das Recht darauf, im Stau zu stehen. Die Jugendlichen klebten sich auf Straßen und, Achtung, gingen auf die Werke alter Meister los. Ja, sie schütteten Dosennahrung gegen Plexiglasscheiben, die die Bilder besser schützen als jedes menschliche Leben. Fertig lustig war es mit dem Verständnis und der Solidarisierung der Erwachsenen mit der Kindergeneration. Was soll denn jetzt bitte noch kommen, fragten stellvertretend ihre Fixsterne, die Kolumnisten und Essayisten der Medien hinter den Bezahlschranken. Die Zauberflötenaufführung, die wir uns verdient haben, mit Kunstblutaktionen zu stören? Sich an den Eingang von BlackRock tackern, und dabei gegenderte Protestzeilen zu intonieren? Und bei vielen der über Zwanzigjährigen stellte sich eine Erschütterung ein. Sie fühlten es nicht mehr, das WIR, das sagte: Ich bin die beste Freundin meiner Tochter und wir tauschen Klamotten. Oder – ich share die Hip-Hop-Spoti-Listen mit meinem Kind. Die Chucks kamen in den Müll und die Erkenntnis war brutal: Teile der nicht mehr Zwanzigjährigen waren nicht mehr jung. Sie machten blöde Witze über die Verwendung von neutralen Pronomen, fanden Transmenschen irgendwie na ja, sie ertappten sich dabei, leise Zigeunerschnitzel zu murmeln und extra mit hoher Geschwindigkeit auf Autobahnen zu brettern. Lasen wütende Aufsätze von Essayisten in ihrer Printtageszeitung, nickten leise. Diese dummen Gören, die Kunst angriffen, gerade Kunst, das brotlose Gewerbe Randständiger. Tradition und Identifikation der Menschheit wurde da besudelt, und scheiß auf den Planeten, den retten wir sowieso nicht mehr. Und: Ich will einfach meine verdammte Ruhe haben in dieser irrsinnigen Welt. Für mich wird es schon noch langen. Mit dem Klima und allem. Dachten sie. Nach dem jahrelangen Geraune über die angepasste Jugend, die FDP-Wähler und Konsumenten, ist sie nun da. Die Jugendbewegung, die es schafft, sich wirklich von ihrer Elterngeneration abzugrenzen. Ja, und nun ist es vollbracht. Nach dem jahrelangen Geraune über die angepasste Jugend, die FDP-Wähler und Konsumenten, ist sie nun da. Die Jugendbewegung, die es schafft, sich wirklich von ihrer Elterngeneration abzugrenzen. Die laut ist und stört, die nervt, und das zu Recht. Es ist für die Evolution, also die kurze, die die Menschheit eventuell noch erleben darf, wichtig, dass der nachwachsende Mensch glaubt, es besser zu wissen. Dass er rebelliert, Revolutionen plant, wenngleich sie meist auch nur theoretisch stattfinden. Es ist wichtig, dass die Menschheit sehr zäh begreift, dass alle den gleichen Nichtrespekt des Kapitalismus und der Märkte verdienen, und dass sich die Weltbevölkerung einen Millimeter weiterentwickelt. Als nicht mehr Jugendlicher kann man alle Entwicklungen albern finden oder prima, es ist egal. Am besten, man unterstützt die Jugendlichen, ist froh, dass sie die Energie haben, etwas ändern zu wollen, was die meisten Erwachsenen doch irgendwann aufgegeben haben. Man wird nicht gezwungen, alles mitzumachen, was sich andere ausdenken, aber in Ruhe lassen kann man sie und eigene Positionen überdenken. Und vielleicht haben sie ja in einigen Dingen recht, die Jugendlichen, in deren Weltverständnis es vermutlich sogar eine Logik hat. Zum Beispiel die, ältere Menschen bescheuert zu finden, denn sie stören die eigene Aussicht auf unendliche Jugend. Da hilft es auch nicht, wenn Bayern seine Jugendlichen präventiv einsperrt. Den eigenen Verfall kann man nicht mit Gefängnisstrafen verhindern. Was tun also? Vorsorglich alle 16- bis 25-Jährigen in Gewahrsam nehmen, warten, bis sie bereit sind, ordentliche BürgerInnen zu werden, um sich ihre Hartz-IV-Leistungen zu holen, in gebührender Demut sich ihre Existenz nicht zu verdienen, in einem netten Land mit einer üblichen Regierung. Und all den Essayisten und Kolumnisten, die jetzt gerade am millionsten Text über Kunst, Kleber, Gendern sitzen – lasst es einfach. Untersucht die Gefahren der Überwachung, des Lobbyismus, prangert die Lügen einiger PolitikerInnen an, beruhigt die Menschen, bringt sie wieder dazu, miteinander zu reden, oder macht Mittagsschlaf. Und träumt von der Beantwortung der Frage: Ist denn euer Leben wirklich so großartig, dass ihr es vor der Jugend verteidigen müsst?